Joseph Joachim

«Hamlet» Ouvertüre op. 4

Sätze

  • Moderato assai - Allegro agitato

Dauer

17 Min.

Entstehung

1853

«Wir haben Herrn Joachim vor Kurzem ein außergewöhnliches Compositionstalent zugesprochen und wir bleiben auch nach der Aufführung seiner Ouverture zu Hamlet bei unserer Meinung. Neuheit und Eigenthümlichkeit der Gedanken hat sie durchaus. Allein was hilft es, wenn wir nach dem Anhören eines Tonstückes sagen können: das war sehr neu, sehr eigenthümlich, und hinzufügen müssen: aber durchaus unbegreiflich? Und durchaus unbegreiflich ist uns seine Ouverture geblieben. Wir haben eine sehr lange Reihe seltsamer Gedanken gehört, worunter welche wie leuchtende Blitze in düsterer Nacht kurz aufzuckten, aber wir vermochten sie weder als eine einheitliche Form zu fassen, noch irgend einen Bezug in ihnen auf Shakspeares Hamlet zu erkennen […]»

Wie ein kostbares Juwel aus einem anderen Zeitalter erscheint diese Besprechung in den «Signalen für die Musikalische Welt» vom März 1854 zu einer Aufführung der «Hamlet»-Ouvertüre op. 4 von Joseph Joachim im Leipziger Gewandhaus. Durchaus ähnlich waren viele Reaktionen schon zehn Monate zuvor bei einer öffentlichen Leseprobe des Werks durch die Widmungsträger – die Weimarer Hofkapelle – unter der Leitung von Franz Liszt. Freunde des Komponisten, darunter Albert Dietrich, äußerten sich durchaus zustimmend zum Werk, sodass hier ein Beispiel eines in seiner Entstehungszeit durchaus umstrittenen und in der Folge über Jahrzehnte nicht oder extrem eingeschränkt wahrgenommenen Stücks vorliegt.

Unter einer anderen Perspektive erscheint Joachims «Hamlet», wenn man in Betracht zieht, dass es sich um das Werk eines 22-Jährigen handelt: Das Komponieren spielte für den 1831 im damals ungarischen, heute burgenländischen Kittsee geborenen und 1907 in Berlin verstorbenen Künstler eine zweitrangige Rolle neben seiner Laufbahn als einer der bedeutendsten Geigenvirtuosen des 19. Jahrhunderts. Bei der Wahl des Stoffes als Grundlage zu einer Konzertouvertüre mag die persönliche Situation bedeutsam gewesen sein: ein junger Mann auf der Suche nach Sinn und Inhalten, das später oft zitierte Lebensmotto «FAE» für «frei, aber einsam» vor sich hertragend, das sogar auf der Partitur der Ouvertüre aufscheint. So mochte er also im Dänen-Prinzen in gewissem Maß durchaus ein Spiegelbild sehen. Franz Liszt nannte die Ouvertüre pointiert ein musikalisches Selbstporträt ihres Komponisten.

William Shakespeares Stoff war damals generell populär. Liszt selbst komponierte nur fünf Jahre später eine eigene symphonische Dichtung «Hamlet», und in den 1860er-Jahren schrieben Ambroise Thomas und Franco Faccio abendfüllende «Hamlet»-Opern. Joachim mochte vor allem ein Zitat aus der Rede des Polonius an seinen Sohn Laertes im ersten Akt im Innersten berühren: «To thine own self be true» – «Dir selbst bleibe treu».

Einblick in Joachims Motivation gibt ein Brief an den befreundeten Komponisten Woldemar Bargiel: «[...] Die Leute halten sich daran, daß Hamlet viel reflektirt. Dies Reflektiren ist ja aber nur die nothwendige Flucht vor der Unruhe, die sein Inneres beständig durchwühlt. Was ihn da hintreibt, der ewige mächtige Thatendrang, die tiefe Trauer darüber, daß diese herrliche Sehnsucht nach Verwirklichung des innersten Lebens an äußeren Verhältnissen, an geistig Nichtigem machtlos verbluten muß, hat wohl jedes Menschen Brust durchzogen, ist allgemein menschliches Gefühl, also auch musikalisch.»

Albert Dietrich schließlich formulierte seine Eindrücke über Joachim und das Werk in einem Schreiben an Bargiel so: «Seiner ganzen Erscheinung ist der Stempel höchster Künstlerschaft aufgeprägt. Meine Verehrung u. Begeisterung für ihn steigerte sich aber noch gewaltig, als ich die Hamletouverture kennen gelernt; das Werk hat mich tief ergriffen; das ganze Trauerspiel klingt auf das Frappanteste daraus hervor. Merkwürdig characteristisch ist das Hauptmotiv des Allegro – so unentschieden, mysteriös – wie Hamlet; von wunderbarer Wirkung das der ganzen Ouverture eigene Intervall der verminderten Terz etc.»

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H.| Christian Heindl

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