Witold Lutoslawski

Konzert für Orchester

Sätze

  • Intrada. Allegro maestoso

  • Capriccio notturno e arioso. Vivace

  • Passacaglia, Toccata e Corale. Andante con moto

Dauer

29 Min.

Entstehung

1954

Witold LutosŁawski hatte schon als kleiner Bub verstanden, dass verheerende Konflikte, Unterdrückung, Gewalt und politische Willkür zu den finstersten Erscheinungen der menschlichen Ordnung gehören. 1913 in Warschau als Sohn adeliger Eltern geboren, wuchs er in einer politisch engagierten Familie auf. Sein Vater Józef war in der demokratischen Bewegung «Endecja» aktiv und setzte sich während des ersten Weltkriegs für eine Unabhängigkeit Polens vom zaristischen Russland ein. Um die Entwicklungen aus der Nähe verfolgen zu können, reiste er mit seiner Familie und seinem Bruder Marian nach Moskau. Die beiden Revolutionen im Februar und Oktober 1917 änderten alles, Russland stieg aus dem Kriegsgeschehen aus und verordnete den ehemaligen zaristischen Provinzen den Frieden. Für das seit 1815 im Rahmen des Wiener Kongresses geteilte Polen bedeutete das immer noch keine Unabhängigkeit, die Bemühungen der Lutosławskis waren im Konflikt mit der jungen Sowjetunion. Man verhaftete die Brüder und setzte einen Prozess an. Der gerade fünfjährige Witold konnte seinen Vater noch einmal im Gefängnis besuchen, bevor dieser noch vor (!) der Gerichtsverhandlung von einem Erschießungskommando hingerichtet wurde.

Nach Warschau zurückgekehrt, lernte Witold Klavier und Violine, später studierte er Komposition und Mathematik. Seine Pläne, nach dem Studienabschluss 1937 nach Paris zu gehen, zerschlugen sich durch den Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Als ausgebildeter Funker geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er bald fliehen konnte. Nach Warschau zurückgekehrt, schlug sich Witold Lutosławski mit seinem Freund und Komponistenkollegen Andrzej Panufnik als Klavierduo in Kaffeehäusern durch. Es war die einzige Möglichkeit für polnische Bürger, live Musik zu hören, denn Konzerte waren von den Nazis als öffentliche Versammlung verboten worden. Lutosławski arbeitete in dieser Zeit an seiner ersten Symphonie, die Skizzen konnte er glücklicherweise retten, als er 1944 aus Warschau fliehen musste, um später in seine völlig zerstörte Heimatstadt zurückzukehren.

Nach dem Krieg war man in Polen emsig damit beschäftigt, das Leben rasch in ruhige Bahnen zu bringen. Als neu gewählter Generalsekretär der polnischen Komponistenvereinigung präsentierte Witold Lutosławski 1948 seine vollendete erste Symphonie der Öffentlichkeit und damit auch der politischen Führung unter Stalins eisernem Griff. Und wie auch bei anderen Zeitgenossen, etwa Schostakowitsch und Prokofjew, lautete auch hier das Urteil auf «Formalismus» - womit die Ideologen in Moskau so gut wie alles in den kunstästhetischen Orkus verdammten, was in ihren Augen nicht leicht fasslich und allzu gebildet war. Die Kunst hatte dem Volk in dienender und erfreuender Funktion zur Verfügung zu stehen, jede weitere Anregung war unerwünscht, ja sogar gefährlich.

Nein, Lutosławski hatte es bis dahin nicht leicht gehabt und wusste nur allzu gut, dass jede Zeit ihre Umstände mit sich bringt, auf die man sich einzustellen hatte. Aber wie konnte er Künstler sein und auf seine innere Stimme hören, wenn Genosse Stalin alles übertönte? Lutosławski schrieb Gebrauchsmusik für den Rundfunk und das Theater, pädagogische Klavierstücke und Kinderlieder. Der Lutosławski der späteren Jahre, der mit völlig neuen Zugängen zur Musik überraschte und sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Erfolg gegen so manche verbreitete Mode stemmte, war in den Nachkriegsjahren noch nicht geboren. Die späten 1940er-Jahre waren der Konsolidierung gewidmet. Und doch ergab ein Auftrag von Witold Rowicki, dem Chefdirigenten der Warschauer Philharmoniker, eine günstige Gelegenheit, um sich kompositorisch zu verwirklichen. Rowicki hatte Lutosławskis Kleine Suite gehört, die für das Radio entstanden war. Für sein Orchester bestellte der Dirigent im Jahr 1950 etwas «Größeres und Brillanteres». Lutosławski wählte bewusst den Titel «Konzert für Orchester», einerseits in Anlehnung an seinen Komponistenkollegen Béla Bartók, andererseits als Ehrung an das Orchester und seiner Mitglieder – ein subtiles Plädoyer für die Individualität. Im Wissen, dass der kommunistische Machtapparat Polens ihn sehr genau beobachtete, verwendete er eine Sammlung von Volksmelodien aus Masowien (die Gegend rund um Warschau), um seinem Werk die verlangte Volksverbundenheit zu geben.

Das Konzert für Orchester zeigt sich an der Oberfläche als liebevolle Hommage an die polnische Volksmusik und garantiert derart die von der Kulturbürokratie geforderte Verständlichkeit. Allerdings greift Lutosławskis die Folklore nur recht oberflächlich auf, die Melodien dienen als Rohmaterial. Sie werden mit neuen Harmonien, atonalen Kontrapunkten und neobarocken Satzformen kombiniert und haben somit nur geringen Einfluss auf die endgültige Gestalt der Musik. Lutosławski manövrierte so an den auferlegten Beschränkungen elegant vorbei und schrieb ein anspruchsvolles und zugleich persönlich gefärbtes Werk.

Die Satztitel entlehnte Lutosławski aus dem Frühbarock, die einen Kontrast zum folkloristischen Grundton der Musik bilden. Die einleitende Intrada steigert sich bis zu einem ersten Höhepunkt, das pathetisch-breite Thema leitet sich aus motivischen Splittern des Violoncellos ab, in Folge verarbeitet Lutosławski die musikalischen Gedanken zu einem komplexen Geflecht – dabei behält er jedoch stets eine verblüffende Fasslichkeit bei. Die Intrada wendet sich schließlich fast magischen Sphären zu: Über Flageolett-Klängen mit repetierten Tönen der Celesta erklingen die Anfangsmotive wie aus einer Traumwelt.

Das Capriccio notturno e arioso ist dreiteilig angelegt: In gehetzter Stimmung flirren die Töne umher, um schließlich vom ernsten Arioso des Mittelteils abgelöst zu werden. Die Schwere der Musik wird alsbald wieder vom huschenden Capriccio-Charakter abgelöst. Der spätere Lutosławski blitzt hier schon hervor, wenn die Blasinstrumente fast schon geräuschhaft eingesetzt werden und einen kleinen Vorgeschmack auf die kompositorische Freiheit späterer Jahre geben.

Die abschließende Passacaglia, Toccata e Corale ist der Höhepunkt des Konzerts für Orchester. Das gesamte Finale legt Lutosławski als eine Abfolge von Überraschungsmomenten an: Die Basslinie der Passacaglia wandert durch das ganze Orchester, durchbrochen von schrillen Einwürfen der Blechbläser. Die energisch vorwärtsstrebende Toccata wird vom Choral (Corale) in den Oboen und Klarinetten unterbrochen, bis eine unscheinbare Steigerung plötzlich die Überhand gewinnt und das Konzert in einem spektakulären Finale zum effektvollen Abschluss bringt.

Lutosławskis Konzert für Orchester wurde nach vierjähriger Kompositionszeit am 26. November 1954 in Warschau uraufgeführt. Das Werk machte seinen Schöpfer schlagartig auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs bekannt, er selbst distanzierte sich später gern von seinem Konzert und meinte lapidar: «Ich mag dieses Werk von mir nicht besonders, aber es hat sich offenbar einige Frische bewahrt.» Die besagte Frische ist nur eine von vielen Qualitäten dieser Musik – nicht zuletzt ist das Konzert für Orchester bis heute ein unangefochtener Klassiker des 20. Jahrhunderts.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

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