Jean Sibelius

«Pohjolas Tochter» Symphonische Fantasie op. 49

Dauer

18 Min.

Jean Sibelius kam im Herbst 1890 nach Wien, um seine musikalische Ausbildung fortzusetzen. Er bezog sein Quartier im Haus Wiedner Hauptstraße Ecke Waaggasse und nahm Unterricht bei Karl Goldmark und Robert Fuchs. Neben vielen Eindrücken aus der österreichischen Hauptstadt, die er in Briefen nach Hause schilderte, befasste sich der 25-jährige Sibelius mit einem Buch, das er aus seiner finnischen Heimat mitgebracht hatte: dem Nationalepos «Kalevala». Darin werden zahllose Geschichten von Zauberern, Hexen und weiteren mythischen Gestalten erzählt. Einige dieser Geschichten, die in Gesängen zusammengefasst sind, inspirierten Sibelius in den kommenden Jahren zu einer Reihe von Kompositionen, mit denen er sich in Finnland einem breiten Publikum vorstellte. Nachdem er sich ab Ende der 1890er Jahre unter anderem seinen ersten Symphonien, dem Violinkonzert und anderen Werken gewidmet hatte, wandte er sich 1906 wieder einem Stoff aus dem «Kalevala» zu. «Pohjolas Tochter» bezieht sich auf das achte Lied des Epos, in dem der Zauberer Wäinämöinen vom Nordland (Pohjola) auf dem Weg nach Hause ist. Er möchte unterwegs um die Hand der schönen Tochter von Pohjola anhalten, deren bezaubernde Anmut weithin berühmt ist.

Sibelius näherte sich mit «Pohjolas Tochter» deutlich an die symphonischen Dichtungen von Richard Strauss an. Ursprünglich wollte er das Werk «L’aventure d’un héros» («Abenteuer eines Helden») nennen, ein deutlicher Hinweis auf die Strausssche Tondichtung «Ein Heldenleben». Auch der Name des Zauberers «Wäinämöinen» war für Sibelius als Titel gut vorstellbar, doch sein Verleger Robert Lienau war mit diesem Vorschlag unzufrieden, der Name sei «zu markant für uns Deutsche», schrieb er. Der Kompromiss lautete also «Pohjolas Tochter» und rückte damit die weibliche Hauptfigur in den Mittelpunkt des Geschehens.

Musikalisch teilt Sibelius die Bühne in hohe und tiefe Regionen. Die hohen Lagen sind der Tochter Pohjolas vorbehalten, während Wäinämöinen in den tiefen Bassregionen zu Hause ist. Das Solocello eröffnet das einsätzige Werk, Fagott und Englischhorn verstärken die dunklen Farben, in denen der Zauberer charakterisiert wird. Die Fahrt durch die kalte Landschaft des Nordlandes führt zur Begegnung mit Pohjolas Tochter, die im Glanz der Blechbläser erstrahlt. Das markante Motiv der Protagonistin wird immer wieder herausgeschmettert und erzeugt so Distanz zum Zauberer, der sich unten auf der Erde abmüht. Als meisterhafter Erzähler erweist sich Sibelius im Folgenden, wenn er die gestellte Aufgabe im Einzelnen schildert und jedes Detail hörbar macht. Das Zersplittern des Holzes ist ebenso hörbar wie die Anstrengungen, die Wäinämöinen unternehmen muss, um alle Auflagen zu erfüllen. Das Scheitern des Zauberers schließt den Mittelteil. Die Rückkehr des strahlenden Blechbläser-Motivs, das sich über die rollenden Bewegungen des Zauberers hinweg hebt, leitet das Ende der «symphonischen Fantasie» ein. Die Distanz zwischen Hoch und Tief, der Tochter Pohjolas und dem Zauberer Wäinämöinen wird immer größer, bis der Tonraum an beiden Enden erschöpft ist und schließlich im Nichts verklingt.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Alexander Moore

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