Johannes Brahms

Quintett für Klarinette, zwei Violinen, Viola und Violoncello h-Moll op. 115

Sätze

  • Allegretto

  • Adagio

  • Andantino – Presto non assai, ma con sentimento

  • Con moto

Entstehung

1891

Johannes Brahms musste sich in den musikalischen Grabenkämpfen des 19. Jahrhunderts, welche die Parteien der fortschrittlichen «Neudeutschen» rund um Richard Wagner und Franz Liszt mit den Konservativen austrugen, auf den Schild der Letzteren gehoben sehen und galt denn auch seinen Freunden und Anhängern, wie etwa dem Kritiker und Musikästhetiker Eduard Hanslick, in der Erfüllung des Beethovenschen Erbes als Endpunkt einer Entwicklung, welche sich allen Verirrungen einer «Zukunftsmusik» widersetzte. Doch war es kein anderer als Richard Wagner, der dem 31-jährigen Brahms 1864 zu dessen Händel-Variationen gratulierte, die ihm dieser vorgespielt hatte: «Man sieht, was sich in den alten Formen noch leisten lässt, wenn einer kommt, der versteht, sie zu behandeln.» Das hohe Interesse an älterer Musik und der ganz bewusste Rückgriff auf musikalische Techniken vorvergangener Epochen bei Johannes Brahms deckt sich mit ähnlichen Bestrebungen etwa Anton Weberns: Die Wiener Schule, die sich als legitime Nachfolgerin der europäischen Musikgeschichte sah und den (damals noch unbestritten affirmativen) Fortschrittsgedanken der Moderne für sich beanspruchte, feierte denn auch den angeblich so grüblerisch-akademischen, von der «Melancholie des Unvermögens» (Friedrich Nietzsche) angekränkelten Norddeutschen in einem provokativen Gegenentwurf zur herrschenden Anschauung als «Brahms, den Fortschrittlichen»: So hat ihn Arnold Schönberg zunächst in einem Rundfunkvortrag am 12. Februar 1933 in Radio Frankfurt bezeichnet, bevor die schon in der Emigration veröffentlichte schriftliche Fassung zu seinem vielleicht berühmtesten und die Brahms-Exegese bis heute nachhaltig beeinflussenden Aufsatz werden sollte. Die motivisch-thematische Durchdringung des gesamten Tonsatzes, die Technik der von Schönberg so genannten «entwickelnden Variation», der ungerade Periodenbau mit verkürzten oder erweiterten Phrasen, eine durch Nebenstufen angereicherte Harmonik – all das erlaubte es den Proponenten der Wiener Schule, Brahms als weiteren Kronzeugen für ihre evolutionären, nicht etwa revolutionären Neuerungen der Tonsprache heranzuziehen.

Das schwermütig-prächtige Klarinettenquintett h-moll op. 115, das gemeinsam mit dem a-moll-Trio für Klarinette, Violoncello und Klavier op. 114 im Sommer 1891 in Bad Ischl entstanden ist, macht das bestens nachvollziehbar. Im Jahr zuvor noch hatte Brahms, damals 57-jährig, laut darüber nachgedacht, das Komponieren aufzugeben, doch die Begegnung mit Richard von Mühlfeld, dem grandiosen Klarinettisten des Meininger Hoforchesters, ließ ihn anderen Sinnes werden. «Man kann nicht schöner Klarinette blasen, als der hiesige Mühlfeld tut», schwärmte er im März 1891 Clara Schumann vor. Schon vier Monate später wandte er sich brieflich an Helene Freifrau von Heldburg, die Gattin von Georg II., dem Herzog von Sachsen-Meiningen: «Ich möchte mich auf das Zudringlichste nach Meiningen einladen», heißt es da mit der für ihn typischen Ironie. «Es ist aber diesmal nicht purer Egoismus. Ganz vertraulich erlaube ich mir zu erzählen, wie sehr ich für Sie gedacht u. gar gearbeitet habe. Es ist mir (immer unter uns) nicht entgangen, wie sehr Sie dem Herzogl. K[ammer]-M[usikus] u. M[usik]-Dir[ector] Mühlfeld geneigt sind, ich habe oft mit Wehmut gesehen, wie mühsam u. ungenügend Ihr Auge ihn an seinem Orchesterplatz zu suchen hatte. Im letzten Winter konnte ich ihn wenigstens einmal voran hinstellen – aber jetzt – ich bringe ihn in Ihre Kemmenate, er soll auf Ihrem Stuhl sitzen, Sie können ihm die Noten wenden u. die Pausen, die ich ihm gönne, zu traulichstem Gespräch benutzen! Das Weitere wird Ihnen gleichgültig sein, nur der Vollständigkeit halber sage ich noch, daß ich für diesen Zweck ein Trio u. ein Quintett geschrieben habe, in denen er mitzublasen hat u. die ich Ihnen zur Verfügung stelle – zur Benutzung anbiete. Nebenbei ist nun Ihr M[ühlfeld] der beste Meister seines Instruments u. mag ich für diese Stücke an gar keinen anderen Ort denken als an Meiningen.»

Ein elegischer Grundton durchzieht das Quintett, «ein Werk des Rückblicks und des Abschieds», wie Brahms’ Biograph Karl Geiringer feststellte. «Bilder der Vergangenheit mit ihren Freuden und Leiden, ihrem Sehen und Hoffen ziehen an dem alternden Meister vorüber, der sie in zart gedämpften, wehmütigen Tönen wieder erstehen läßt.» Alle Sätze im vergleichsweise engen tonalen Raum mit den Schwerpunkten h-moll, H-Dur und          D-Dur scheinen vom Prinzip der veränderten Wiederholung, eben der «entwickelnden Variation» geprägt – nicht erst im Finale, das als Thema mit Variationen komponiert ist und damit dem formalen Vorbild von Mozarts Klarinettenquintett folgt – ein weiterer Bezug zur musikalischen Vergangenheit, ebenso wie ein Anklang an Carl Maria von Webers f-moll-Klarinettenkonzert im Stirnsatz (Brahms hatte Mühlfeld mit beiden Werken gehört).

Der Klarinettenpart stellt höchste Anforderungen, ist aber von jeder äußeren Virtuosengestik weit entfernt: Brahms bindet das Blasinstrument voll in die kammermusikalischen Dialoge der Streicher ein, und wenn die Klarinette einmal solistisch hervortritt, tut sie das in expressiv-dramatischer Weise, etwa wenn im Adagio aufwühlende Tremoli das Wechselspiel zwischen ihr und jeweils einer Streicherstimme einen brodelnden Hintergrund verleihen. Dass der leise verklingende Schluss auf den Beginn des Quintetts zurückgreift, unterstreicht seinen retrospektiven Charakter auf sinnfällige Weise.

© Grafenegg Kulturbetriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer

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