Giuseppe Martucci

Symphonie Nr. 1 d-Moll op. 75

Dauer

40 Min.

Giuseppe Verdi war sauer. «Aber in Dreiteufels Namen», schrieb er 1878 an seinen Verleger, «wenn wir in Italien leben, warum machen wir deutsche Kunst?» Er sah Schlimmes kommen: den «Verfall der Oper», den «Untergang unseres Theaters», und den Anstoß dazu hätten «eigentlich die italienischen Konzertgesellschaften» gegeben. Der grassierende Fimmel für die Instrumentalmusik, fand Verdi, bedeute das Ende der italienischen Musik. «Wir können, ich sage sogar wir dürfen nicht wie die Deutschen schreiben und die Deutschen nicht wie wir.»

Giuseppe Martucci hielt dagegen. Der 1856 in Capua geborene Komponist entschied sich klar für die Instrumentalmusik und damit gegen Verdi. Martucci schrieb keine Oper. Und so angesehen er auch war als Dirigent – Opern dirigierte er nicht. Nur bei Richard Wagner machte er eine Ausnahme. 1888 leitete Martucci in Bologna die italienische Erstaufführung von «Tristan und Isolde». Im selben Jahr kam es in Bologna zu einer denkwürdigen Begegnung. Johannes Brahms, der begeisterte Italien-Reisende, war in der Stadt. Giuseppe Martucci bat darum, ihn im Hotel aufsuchen zu dürfen. «Bei seinem Eintritt», so hielt Brahms’ Reisegefährte Josef Viktor Widmann die Szene fest, «tat der junge italienische Musiker vor dem deutschen Meister beinahe einen Fußfall und küßte ihm die Hand, wie sehr sich Brahms auch dagegen wehrte.» Die Peinlichkeit legte sich, als Martucci «in den lebhaftesten Worten» schilderte, «wie er vor einiger Zeit in Neapel die zweite Symphonie von Brahms aufgeführt habe» und dann auf Kammermusikwerke zu sprechen kam, «die er alle auswendig zu kennen schien, indem er einzelne Themen vorsang». Brahms war hingerissen.

Wagner und Brahms als Fixsterne: In Deutschland und Österreich wäre es damals kaum denkbar gewesen, sie gleichermaßen zu verehren – die aufgestachelte musikästhetische Debatte verlangte eine Parteinahme, die in Italien nicht notwendig war, gehörten doch aus der Sicht des gesangsverliebten Südens beide zum «Sinfonismo», einer stilistischen Strömung, die auf inhaltliche Aussagen im Instrumentalen, Symphonischen fokussiert ist. Martucci suchte als Komponist die Bewährung in genau diesem Feld. Hochmotiviert, mit großer Könnerschaft und Konsequenz verfolgte er seinen Weg gegen alle klischeehaften Widerstände. In Italien wurde er so zu einem Pionier der arrivierten Symphonik, der Schriftsteller und Komponist Arrigo Boito pries ihn als «sommo sinfonista italiano», den «obersten italienischen Symphoniker». Seine erste Symphonie, die 1895 fertig und uraufgeführt wurde, nannte Martucci selbst das Resultat von «sieben Jahren Schufterei». Ähnlich ging es bekanntlich Johannes Brahms, der seine erste Symphonie nach einer Inkubationszeit von 14 Jahren vorlegte. Hier wie dort zeigte sich der Anspruch, der mit der «Symphonie nach Beethoven» verbunden war: Gipfel und Summe einer dialektisch-sinnreichen und zugleich sinnlichen Kunst zu sein.

Den Weg zur Symphonie hatte sich Martucci als Komponist anspruchsvoller Klavier- und Kammermusikwerke gebahnt. Das Klavier war überhaupt sein Instrument. Schon in jungen Jahren startete er, von Größen wie Franz Liszt gepriesen, eine internationale Pianistenkarriere – und das mit einem beachtlich weiten Repertoire, das er dann auch als Dirigent anstrebte. Vor diesem Hintergrund sollte man auch den Symphoniker Martucci betrachten. Verfehlt wäre es jedenfalls, ihn bloß im Bann von Brahms oder im Dunstkreis Wagners zu suchen. Wenn schon, dann wären die Koordinaten, ihn zu orten, noch viel reicher anzusetzen – mit Namen wie Robert Schumann, Antonín Dvorák, Pjotr Iljitsch Tschaikowski … Doch halt! Wäre nicht genau das wieder ein Ausdruck des Vorurteils? Die Unterstellung, ein Italiener könne eine Symphonie eben nur dann schreiben, wenn sie klinge wie X, Y oder Z …? Martuccis Musik ist zweifellos stark genug, um ohne lauschendes Lauern auf Reminiszenzen gehört und erlebt zu werden.

Die dramatisch-dunkle Sphäre von d-Moll bereitet den Raum für einen unmittelbar packenden, stürmischen Beginn. Auch wenn die Stimmen dann lyrisch zu singen beginnen, bleibt der nervöse Puls spürbar. Ein fesselnder Drive prägt diesen ersten Satz: Musik aus einem Guss, denn auch die Themen sind eng aufeinander bezogen. Souverän versagt sich Martucci den naheliegenden Effekt, den Satz in ein affirmatives Finale zu jagen – er endet spannungsvoll im Piano. Aus ihm hebt sich das Andante als feines poetisches Tableau, beginnend mit einem kantablen, fast konzertanten Cello-Solo, das vom Orchester zart weitergeführt wird. In großem Bogen, gleichsam auf einem Atem, durchläuft der Satz auch dunklere Gefilde, um sich zum Schluss hin wieder sanft aufzuhellen. Elegante Gestik dann im Allegretto – doch ist der Nonchalance zu trauen? Für Momente schieben sich dunkle Wolken vor die bukolische Szenerie. Und dann bricht wie mit einem Gewitterschlag der Finalsatz an. Der zu erwartende Sturm aber bleibt aus – die Spannung steigert sich weiter im enggeführten Stimmgefüge, bevor Hörner und Trompeten schmetternd zum finalen Brio blasen. Festlich-fester Ton, durchwirkt von filigranem, drängendem Figurenspiel – doch statt aus dieser Bewegung direkt den Schwung für einen applaustreibenden Schluss zu holen, überrascht Martucci mit einem weiteren Coup: Nochmals lenkt er in lyrische Regionen und erreicht eine Insel der Intimität. Geradezu keck, mit einem Augenzwinkern, steuert er von dort aus die Stretta an.

Ein bemerkenswertes Werk, das viel zu wenig bekannt geworden ist, obwohl sich einst Arturo Toscanini für Martucci einsetzte. In Wien waren es nur Victor de Sabata und Riccardo Muti, die im Musikverein Orchesterwerke von Giuseppe Martucci ins Programm nahmen – nie aber die erste Symphonie. Wenn nicht alles täuscht, handelt es sich hier und heute um eine längst fällige Erstaufführung. Große italienische Musik, abseits von Verdi.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Joachim Reiber

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