Dmitri Schostakowitsch

Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 54

Sätze

  • Largo - Moderato - Sostenuto

  • Allegro

  • Presto

Dauer

35 Min.

Dmitri Schostakowitsch war der geborene Symphoniker. Seine Arbeit zum Studienabschluss war eine Symphonie in f-moll, die den 20-jährigen Russen ins Bewusstsein der musikalischen Weltöffentlichkeit brachte. Ein Jahr nach der Uraufführung im Mai 1926 erlebte das Werk seine erste Auslandsaufführung in Berlin unter der Leitung des renommierten Dirigenten Bruno Walter, die der österreichische Komponist Alban Berg hörte – er war derart begeistert von dem Werk, dass er dem jungen Kollegen einen langen Gratulationsbrief schickte. Auch von dem Dirigenten Arturo Toscanini erhielt Schostakowitsch ein überaus anerkennendes Schreiben, nachdem der berühmte Italiener das Werk aufgeführt hatte. Publikum wie Musiker reagierten beeindruckt auf einen symphonischen Erstling, der nahtlos nicht nur an die große russische, sondern überhaupt die Geschichte der romantischen Symphonie anknüpfte und gleichzeitig viele neue symphonische Ausdrucksmöglichkeiten für das 20. Jahrhundert aufwies. Innerhalb des folgenden halben Jahrhunderts seines Lebens schuf Schostakowitsch weitere 14 Symphonien, in denen sich in eindrucksvoller Weise die turbulenten und für den Komponisten selbst zum Teil höchst bedrohlichen Ereignisse seiner Zeit – der Dreißiger- bis Siebzigerjahre – spiegeln, in denen des Weiteren die Gattung der Symphonie in ihrer seit Haydn konstituierten Eigenschaft als philosophisch-humanistisches Sprachrohr weiterlebte und neue Bedeutung bekam, und in denen vor allem die einzigartige suggestive Kraft des Komponisten Schostakowitsch immer wieder aufs Neue zur Geltung kam.

Als Schostakowitsch 1939 seine inzwischen 6. Symphonie veröffentlichte, hatte er in deren Vorgängern bereits eine Reihe verschiedener kompositionstechnischer Varianten in der symphonischen Form vorgelegt. Dem genialen Erstling waren zwei Chor-Orchester-Symphonien gefolgt, in denen der junge Schostakowitsch, der eine Zeit lang begeistert am Kulturleben der noch jungen sozialistischen Sowjetunion teilnahm, revolutionäre Inhalte mit seinen musikalischen Ideen verquickte, indem er nach teilweise experimentellen und teilweise plakativ-eingängigen instrumentalen Abschnitten jeweils eine vokal-instrumentale Erhöhung komponierte: in der 2. Symphonie als «Symphonische Widmung an den Oktober» (zum 10. Jahrestag der Revolution), in der 3. Symphonie zur Geschichte des «1. Mai».

Als der mittlerweile zu nationaler Bedeutung gelangte Komponist seine 4. Symphonie konzipierte, war bereits Stalin an der sowjetischen Macht – und bei Schostakowitsch war der anfänglichen Begeisterung für die sozialistische Sache Ernüchterung, ja Entsetzen gewichen. Der Künstler bekam am eigenen Leib die doktrinäre Wucht des totalitären Stalin-Regimes zu spüren, als seine bis dahin erfolgreich in Leningrad und Moskau laufende Oper «Lady von Macbeth von Mzensk» in der landesweit erscheinenden Zeitung «Prawda» als «Chaos statt Musik» vernichtet wurde. Von einem Tag auf den anderen war Schostakowitsch ein geächteter Sowjetbürger, er musste mit schlimmen Folgen wie Deportation, ja mit dem Äußersten rechnen. Stalins Menschenvernichtungsmaschinerie, die bereits    gnadenlos ihren Betrieb aufgenommen hatte, verschonte aber den Komponisten, schien ihn noch für Propagandazwecke nutzen zu wollen.

Just in dieser bedrohten Zeit fand Schostakowitsch in seiner 4. Symphonie zu einer Tonsprache, die – ausgehend von den zukunftsweisenden symphonischen Konzepten Gustav Mahlers – genauso experimentell in ihrer Gestaltung wie unverhohlen anklagend in ihrer Aussage war. Nach ersten Proben zog Schostakowitsch das Werk zurück, eine Aufführung hätte ihn damals neuerlich in ärgste Probleme mit dem Regime gestürzt (die Uraufführung wurde erst Anfang der Sechzigerjahre während der so genannten «Tauwetter-Periode» nachgeholt).Mit seiner 5. Symphonie, die ähnliches  thematisches Material wie die Vierte in einer nunmehr aber «verständlichen und dem Volk zugänglichen Tonsprache» formulierte, wie sie von den stalinistischen Kulturwächtern gefordert wurde, machte Schostakowitsch gewissermaßen einen Kniefall vor den Mächtigen, die hinter der glanzvollen Fassade des Werkes nicht die auch hier wieder geäußerten tragischen und kritischen Aspekte hörten. Das Werk hatte die erwünschte Wirkung in der Öffentlichkeit und erfüllte dennoch höchste kompositorische und künstlerische Ansprüche. Eine Ambivalenz, in der Schostakowitsch noch oft komponieren sollte.

Nach der erfolgreichen 5. Symphonie, die der klassischen musikalischen Form in der traditionellen Viersätzigkeit und oberflächlich dem Motto «Durchs Dunkel zum Licht» entsprach, arbeitete Schostakowitsch angeblich in seiner nächsten Symphonie an einem dem Revolutionär Lenin gewidmeten Vokal-Instrumental-Werk. Zumindest ließ dies der Komponist in einem Artikel verlauten und nannte sogar bereits seine geplante Textauswahl. Umso überraschter muss die sowjetische Musiköffentlichkeit gewesen sein, als sie bei der Uraufführung der 6. Symphonie  h-moll op. 54 am 2. November 1939 in Leningrad mit den dortigen Philharmonikern unter der Leitung des Dirigenten Jewgeni Mrawinski ein Werk hörte, das so gar nichts mit Lenin zu tun hatte und in seinem Aufbau den gebotenen politischen Ernst vermissen ließ. Die Hörer waren dennoch beeindruckt von der epischen Weite des ersten Satzes und den zündenden Funken der beiden folgenden Schnellsätze. Das Werk erntete begeisterte Reaktionen beim Publikum, während die Kritiker der offiziellen Sprachrohre einiges auszusetzen hatten. Hauptvorwurf: Das dreisätzige Werk sei ein symphonischer «Rumpf ohne Kopf», da ihm der einleitende Sonatenhauptsatz fehle. In Moskau wurde wegen der Symphonie sogar eine Sondersitzung des sowjetischen Komponistenverbandes einberufen, in der – in Abwesenheit des einmal mehr verschreckten Komponisten – viele seiner Kollegen über die angeblichen Mängel des Werkes herzogen.

Die Kritik vom «Rumpf ohne Kopf» umdeutend, könnte man bei der Sechsten vielmehr von einer «Symphonie mit Januskopf» sprechen. Denn Schostakowitsch zeigt in ihr zwei Gesichter. Da ist im ersten Satz, dem Largo, der trauernde, klagende und verschlossene Blick des Künstlers, den er im alltäglichen Leben gegenüber der Öffentlichkeit verbergen musste. Und da sind im 2. Satz, einem Allegro, und 3. Satz, einem Presto, Lebensfreude und Fröhlichkeit zur Schau gestellt. Freilich schäumt dieser Frohsinn mehrmals über und kippt regelrecht ins Groteske und sogar Wild-Bedrohliche um – aber diese Töne, sicherlich auch Ausdruck der Verzweiflung des Künstlers über die erzwungenen unehrlichen Verhaltensweisen als Mensch in der sowjetischen Gesellschaft, werden schließlich von effektvoll virtuosen, durchaus freiwillig trivialen Finalpassagen weggeschwemmt. Der brillante Orchesterkomponist Schostakowitsch tobt sich hier, wie kaum in einer anderen Symphonie, hellauf lachend aus. Wenn sich in den letzten Takten der Symphonie zitathaft Richard Strauss’ «Till Eulenspiegel», der bereits im zweiten Satz einmal hervorgelugt hat, nunmehr in die orchestrale Menge stürzt,  dann wissen die Hörer, dass hier ein Schelm zu ihnen spricht. Freilich weiß man auch, wie es den Spaßvögeln erging – und das ist einige Male davor in der Symphonie zu hören.

Der erste Satz ist in etwa so lang wie die beiden folgenden Sätze zusammen. Er hebt mit einem eindringlichen, expressiven Thema in Bratschen, Celli, Englischhorn, Klarinetten und Fagotten – also einer etwas abgedunkelten, aber dennoch scharfen Klanggebung – an, allmählich tritt das ganze Orchester hinzu. Auch wenn mehrere Punktierte für Bewegung sorgen, ist das Thema im Allgemeinen doch von Unentschlossenheit, ja manchmal Unsicherheit geprägt. Der, der da komponiert, will ausdrücken, dass er nicht recht weiß, wohin er sich wenden soll mit seinem Leid über die angespannte gesellschaftliche Situation. Der Ernst und die Besorgtheit, die aus der Musik dieses Satzes sprechen, geben zudem auch die aktuelle politische Situation zur Entstehungszeit der Symphonie wieder. Die Sowjetunion befand sich damals, 1939, in der Phase des Hitler-Stalin-Paktes, im September erfolgte dann der Überfall von Nazi-Deutschland auf Polen, wovon auch das stalinistische Russland überrascht wurde. Also auch in politischer Hinsicht wusste damals ein sowjetischer Bürger nicht wirklich, wie es weiter gehen würde und wohin es die Sowjetunion in diesem dramatischen europäischen Konflikt noch verschlagen würde.

Schostakowitsch zieht sich jedenfalls   in diesem Largo mehr und mehr in die innere Emigration zurück, begleitet von Trauermarschmusik, in die sich die punktierten rhythmischen Impulse des Symphoniebeginns nunmehr verwandelt haben. Schostakowitsch geht dem Dualismus der symphonischen Sonatenhauptsatzform aus dem Weg, er scheut hier den Konflikt und den Kontrast, vielmehr bringt er in der dreiteiligen Anlage des Satzes das thematische Material in verschiedene harmonische Situationen und löst bestimmte motivische Teile heraus. So gewinnt eine Triller-Floskel aus der Schlussgruppe des Hauptthemas zunehmend an Bedeutung, sie geht schließlich in ein permanentes Flirren und Flimmern über. Die einsamen thematischen Gestalten scheinen sich in der Wüste zu verlieren.Der zweite Satz, ein Scherzo, führt mitten auf den Jahrmarkt, wo man Verwandten von Strawinskis Petruschka begegnet und auch wilden Gestalten, die sich mit großen Pranken Platz in der Menge verschaffen – gegenüber dem in vielen Skalen verlaufenden ersten Thema klingt das zweite Thema dementsprechend wuchtig. Nach zwei großen Steigerungswellen entschwindet die Szene im Nichts, nur noch Themenpartikel (Flöte) bleiben übrig.

Das Finale hebt als Galopp an. Das zweite, von einem Vorschlag in Gang gebrachte Thema führt die dahinsprengende Musik noch einmal am Jahrmarkt vorbei, ehe mit dem dritten Thema markante Gestalten ins Geschehen einschreiten, die dann in der überaus umfangreich angelegten Koda noch wesentlich an Profil gewinnen. Und dann zieht Till inmitten des Kehraus’ seine Schelmenkappe.

© Rainer Lepuschitz | Tonkünstler

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