Johann Sebastian Bach

Weihnachtsoratorium BWV 248, Kantate Nr. 3 («Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen»)

Dauer

24 Min.

Entstehung

1734

Johann Sebastian Bach war nicht nur ein Meister der Fuge, des Kontrapunkts und der Kunst, Tönen regelgerecht Leben einzuhauchen, sondern auch ein wahrer Spezialist für Wiederverwertung. Freilich bediente sich zu Bachs Zeit nicht nur er selbst schon existierender Werke, um vorhandene Themen neu zu verarbeiten: Die sogenannte «Parodie», das ist, entgegen der heute gebräuchlichen Wortbedeutung, keine lächerliche Variante eines Werkes, sondern die Zweitverwendung eines bestehenden Musikstücks (etwa indem man es mit einem neuen Text versah), war damals eine durchaus gebräuchliche Methode. Besonders heikel kann dieses Kompositionsverfahren allerdings dann sein, wenn Musik für weltliche Anlässe plötzlich in einer geistlich motivierten Komposition neue Verwendung findet, oder umgekehrt, Musik zur höheren Ehre Gottes kurzerhand in Alltagswerke zu mehr oder weniger banalem Zweck Eingang findet. Interessanterweise geschah in Bachs Fall diese Vorgehensweise in nur einer Richtung, nämlich, weltlichen Werken entnommene Musik später in geistlichen Kompositionen einfließen zu lassen. Eines der berühmtesten und populärsten, gleichzeitig gelungensten Beispiele dafür ist das Weihnachtsoratorium BWV 248, das in vielen Details auf älteren Werken beruht. Wenn Bach auf solch frühere, sehr wohl eigene Kompositionen zurückgriff, «dann kaum, um sich die Arbeit zu erleichtern und aus Bequemlichkeit schon vorhandene Musik zu verwenden, sondern um wichtiges Material durch dessen Einarbeitung in beständigere Kompositionen auf Dauer zu erhalten» (Christoph Wolff). Somit erstaunt es schon weniger, bedenkt man, dass geistliche Kompositionen einem Zwecke dienten, welcher Jahr für Jahr wiederkehrte, Anlasswerke zu Geburtstagen von Herrschern oder sonstigen Honoratioren jedoch kaum öfter als zum Anlass selbst gespielt wurden.

Die Entstehung des Weihnachtsoratoriums geht auf das Jahr 1734 zurück, in dem Bach für die drei Weihnachtsfeiertage, das Neujahrsfest, den Sonntag nach Neujahr und das Epiphaniasfest sechs Kantaten komponierte, sie zu einem Werk zusammenschloss und ihm den Namen Weihnachtsoratorium gab. Allerdings: Ein Oratorium im eigentlichen Sinne ist es nicht, geht es doch nicht um die geschlossene, dramatische Darstellung biblischer Geschichte, sondern vielmehr um die lose Aneinanderreihung der für den jeweiligen liturgischen Gebrauch bestimmten Themen rund um die Geburt Christi, erzählt von einem Evangelisten und erweitert um lyrische Betrachtungen. Während etwa der deutsche Musikkritiker und -pädagoge Werner Oehlmann (1901-1985) noch der Ansicht war, das Weihnachtsoratorium sei «zwar im liturgischen, aber nicht im künstlerischen Sinne eine Einheit», sehen spätere Generationen nicht zuletzt aufgrund der Tonartenverklammerung der Teile sehr wohl eine beabsichtigte Einheit (die erste, dritte und sechste Kantate sind in D-Dur komponiert, dazwischen stehen jeweils andere Tonarten, G-Dur in der zweiten, F-Dur in der vierten und A-Dur in der fünften Kantate). Letztlich ist die Frage, ob es sich nun um ein Oratorium im barocken Sinne handle, obsolet, da Bach das Kompendium nun einmal «Oratorium» genannt hat. Wichtiger ist, ob die Gepflogenheit, nur einzelne Teile aufzuführen, dem Werk angemessen ist. Und hier kann man, der ursprünglichen Intention entsprechend, freilich jede Kombination im Konzertsaal spielen – wurden die sechs Kantaten ja bei ihrer ersten Aufführung von Bach selbst auf die oben erwähnten sechs Feiertage aufgeteilt. Am gebräuchlichsten ist wohl die heute gespielte Variante, die ersten drei Kantaten für die drei Weihnachtsfeiertage allein aufzuführen, die gemeinsam einen sowohl dramaturgischen wie auch musikalischen Bogen ergeben.

Textlich hält sich Bach einerseits an das Lukas-Evangelium, andererseits an Material des Leipziger Dichters Picander (mit bürgerlichem Namen Christian Friedrich Henrici, 1700–1764), der mit Bach auch bei Werken wie der Matthäus-Passion BWV 244 oder der Kaffeekantate BWV 211 zusammengearbeitet hat. Die zwei Kompositionen, auf denen ein beträchtlicher Teil der heute gespielten Kantaten des Weihnachtsoratoriums basiert, sind die Glückwunschkantaten BWV 213 und 214, die beide aus dem Herbst 1733 stammen und zu bestimmten Geburtstagen komponiert worden sind: Die Kantate BWV 213 wurde am 5. September zum elften Geburtstag des sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian aufgeführt, und die Kantate BWV 214 entstand für den Geburtstag der Kurfürstin Maria Josepha am 8. Dezember. Insofern sind die Beweggründe – eine Huldigung zum Geburtstag einer Herrscherin im Gegensatz zur Freude über die Geburt Christi – zwar unterschiedlich, doch sind beides Anlässe, die Jubel rechtfertigen.

Wie wichtig für Bach die gebührende Aufmerksamkeit gegenüber der herrschenden Klasse seiner Heimat war, zeigt ein Schreiben aus der Zeit. Der doch überall angesehene und berühmte Bach befand sich in seinem vierten Lebensjahrzehnt, als er 1723 seine Stelle als Thomaskantor in Leipzig antrat. Etwa zehn Jahre später – der Kurfürst August der Starke war im Februar des Jahres 1733 verstorben – wandte sich Bach in einem Schreiben an den Nachfolger auf dem kurfürstlichen Thron, Friedrich August II.: «Durchlauchtigster Churfürst, Gnädigster Herr, Ew. Königl. Hoheit überreiche in tieffster Devotion gegenwärtige geringe Arbeit von derjenigen Wißenschafft, welche ich in der Musique erlanget, mit ganz unterthänigster Bitte, Sie wollen dieselbe nicht nach der schlechten Composition, sonder nach Dero Welt berühmten Clemenz mit gnädigsten Augen anzusehen und mich darbey in Dero mächtigste Protection zu nehmen geruhen.» Dem Thronfolger hatte er eine Messe komponiert, mit dem Hintergedanken, doch zum Hofkomponisten aufzusteigen (was auch, etwa zwei Jahre später, geschah). Der Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, Maria Josepha, hingegen widmete er die Kantate «Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!» BWV 214 – um auch an dieser Stelle gebührend seine Demut zu demonstrieren: In der neunsätzigen Kantate, die den Untertitel «Dramma per musica» trägt, lässt Bach Göttinnen aus der griechischen Mythologie der Königin huldigen. So kommt es, dass bei der Verwendung der Komposition für das Weihnachtsoratorium – der Huldigung der Geburt Christi – keine Diskrepanz zwischen Wort und Ton auftritt. Bach konzentrierte sich in seinen sakralen Werken überhaupt weniger auf das einzelne Wort als auf größere Zusammenhänge, darf man seinem Sohn Carl Philipp Emanuel Glauben schenken: «Bey den seligen Kirchensachen kann angeführt werden, daß er devot u. dem Inhalte gemäß gearbeitet habe, ohne comische Verwerfungen der Worte, ohne einzelne Worte auszudrücken, mit Hinterlassung des Ausdruckes des ganzen Verstandes, wodurch oft lächerliche Gedancken zum Vorschein kommen, welche zuweilen verständig seyn wollende und unverständige zur Bewunderung hinreißen.» Ein schönes Beispiel dafür ist die ursprüngliche weltliche Version des Eröffnungschors des Weihnachtsoratoriums, welche lautet: «Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten! Klingende Saiten, erfüllet die Luft!» Bach setzt hier beinahe wörtlich den Text auch in der Musik um, lässt das Orchester mit Pauken eröffnen, setzt Trompeten nach und zuletzt folgen die Streicher. Zur gleichen Musik beginnt in der Parodie, dem Eröffnungschor des Weihnachtsoratoriums, der Chor mit dem Text: «Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage, / Rühmet, was heute der Höchste getan!» Damit ist die zuvor enge Verbindung von Ton und Wort aufgehoben, und es bleibt nur der höhere Sinn dahinter bestehen, der Jubel über ein freudiges Ereignis, das mit Begleitung von Pauken und Trompeten besungen wird.

Prachtvoll eröffnet – ebenso wie bei der ersten Kantate im freudig erregten 3/8-Takt – der Chor die dritte Kantate (zum dritten Weihnachtsfeiertage am 27. Dezember): «Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen» – zu einer Musik, die in der Kantate BWV 214 zum Text «Blühet, ihr Linden in Sachsen, wie Zedern» erklingt. Inhaltlich schließt hier die Geschichte unmittelbar an, indem die Hirten in einem hurtigen, knappen Kanonchor nun beschließen: «Lasset uns nun gehen gen Bethlehem». Der Solo-Bass macht mit den Worten: «Er hat sein Volk getröst’, Er hat sein Israel erlöst», auf die eigentliche Bedeutung dessen, was da geschehen ist, aufmerksam, bestätigt durch den folgenden Choral («Dies hat er alles uns getan»). In einem Duett von Solo-Sopran und Solo-Bass in heiterem, leichtem Duktus wird sodann, unterstützt von konzertierenden Oboen, der Milde und Liebe des Herrn gedacht («Herr, dein Mitleid, dein Erbarmen») – ein Duett, das in der Kantate BWV 213 auf den Text «Ich bin deine, du bist meine» noch einer höchst weltlichen Bedeutung folgt. Schließlich ergreift auch der Evangelist wieder das Wort und fasst die folgenden Ereignisse in einem Rezitativ zusammen («Und sie kamen eilend und funden beide»), das mit dem Satz endet: «Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen». Damit ist auch die folgende Alt-Arie («Schließe, mein Herze, dies selige Wunder») vorbereitet, die wiederum die Gedanken der Maria, im 2/4-Takt mit ausdrucksvollem Violinsolo, zum Inhalt hat. Einem knappen Rezitativ folgt die Bestätigung der Worte der Muttergottes in einem Choral («Ich will dich mit Fleiß bewahren»), worauf der Evangelist beschreibt, wie die Hirten alles soeben Gesehene verbreiten. Der Choral «Seid froh dieweil, daß euer Heil ist hie ein Gott und auch ein Mensch geboren» beschließt die Geschichte zum dritten Weihnachtsfeiertage gleichsam als Aufruf an die ganze Christenheit. Die Wiederholung des Eröffnungschors «Herrscher des Himmels» bekräftigt nicht nur die nun beendete Weihnachtsgeschichte, sondern auch die innige musikalische Einheit der drei ersten Kantaten.

© Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Markus Hennerfeind

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