Igor Strawinski

Suite aus dem Ballett «Petruschka» (Fassung 1947)

Sätze

  • Volksfest in der Fastnachtswoche

  • Bei Petruschka

  • Bei dem Mohren

  • Karneval abends und Petruschkas Tod

Dauer

32 Min.

Nach dem fulminanten Erfolg mit dem «Feuervogel» wurde vom Impresario der in Paris Triumphe feiernden Ballets Russes, Serge Diaghilew, eine weitere Produktion zu einer Musik Igor Strawinskis geplant: «Le sacre du printemps». Strawinski stellte die Ausarbeitung des Projekts nach einiger Zeit zurück und sich im Sommer 1910 in Clarens am Genfer See erholte. Dort überfiel ihn auf einmal die Idee zu einer anderen Komposition, einer konzertanten Burleske für Klavier und Orchester, die einen bildhaften Hintergrund hatte. Der Komponist gab selber später (1935/36) in seinen «Erinnerungen» über die Situation, in der er sich damals befand, sowie über die Anregung zu dem neuen Stück und dessen Ausführung umfangreich Auskunft:

«Der Gedanke, die Vision des ‹Sacre du printemps› realisieren zu müssen, bedrückte mich wegen der Länge und Schwierigkeit der damit verbundenen Arbeit. Um mich abzulenken, wollte ich vorher ein Werk für Orchester komponieren, in dem das Klavier eine hervorragende Rolle spielen sollte – eine Art von Konzertstück. Bei dieser Arbeit hatte ich die hartnäckige Vorstellung einer Gliederpuppe, die plötzlich Leben gewinnt und durch das teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die Geduld des Orchesters so sehr erschöpft, dass es sie mit Fanfaren bedroht. Daraus entwickelt sich ein schrecklicher Wirrwarr, der auf seinem Höhepunkt mit dem schmerzlich-klagenden Zusammenbruch des armen Hauptmanns endet. Als ich das bizarre Stück vollendet hatte, suchte ich, wenn ich an den Ufern des Genfer Sees spazieren ging, nach einem Titel, der in einem einzigen Wort den Charakter der Musik und damit zugleich die traurige Figur bezeichnen konnte. Eines Tages machte ich vor Freude einen Luftsprung: ‹Petruschka›! Jene arme, komische, hässliche, irregeführte Gestalt, der ewig unglückliche Held aller Jahrmärkte in allen Ländern, in Frankreich als Pierrot, in Deutschland als Kasperle und in Russland als Petruschka bekannt. Ich hatte meinen Titel gefunden.»

Kurze Zeit später kam Diaghilew nach Clarens, um sich über die Fortschritte an «Le sacre du printemps» zu erkundigen. «Er war sehr erstaunt», so Strawinski, «als ich ihm nicht Skizzen zum ‹Sacre› vorspielte, wie er erwartet hatte, sondern das Stück, das eben fertig geworden war und später das zweite Bild von ‹Petruschka› wurde. Es gefiel ihm so sehr, dass er nicht locker ließ und mich überredete, das Thema von dem Leiden der Gliederpuppe auszuspinnen und daraus ein großes Tanzspiel zu machen.»Noch während des Aufenthaltes von Diaghilew in Clarens arbeiteten der Impresario und der Komponist die Handlungsstränge und Disposition des Stückes aus. «Als Schauplatz wählten wir den Marktplatz mit seiner Menschenmenge, seinen Buden und den Zauberkünsten des Taschenspielers; die Puppen erwachen zum Leben – Petruschka, sein Rivale, der Mohr, und die Ballerina. Das Drama der Leidenschaft läuft ab ...»

Das Szenario des Balletts ist in vier Bilder unterteilt. Das erste Bild schildert musikalisch und szenisch das Jahrmarkttreiben auf dem Platz der Admiralität in St. Petersburg während der Faschingwoche mit Leierkasten- und Spielwerkmusik, dem Flötenspiel der Gaukler, mit Volksweisen und russischen Tänzen. Im zweiten Bild ruhen die Puppen wieder in ihren Kästen. Petruschka quält sich wegen seines Aussehens und der Unbeholfenheit seiner Bewegungen. Verliebt in die Ballerina, erntet er von dieser nur Spott. Im dritten Bild tanzt die Ballerina einen verliebten Walzer vor dem Mohr, der in einem luxuriösen Separée ruht. Der eifersüchtige Petruschka platzt in die Liebesszene, wird aber vom Mohr aus dem Separée geworfen. Im Schlussbild herrscht zunächst wieder ein klangbuntes Jahrmarktstreiben mit Tänzen der Ammen, Bauern und des Tanzbärs sowie mit einer Maskerade. Dann kommt auf einmal Petruschka gelaufen, auf der Flucht vor dem Mohren, der ihn verfolgt, einholt und mit dem Krummsäbel niedersticht. Petruschka stirbt. Die umstehenden Menschen sind entsetzt und wollen die Polizei rufen. Doch der Gaukler bedeutet ihnen, dass es sich ja nur um Holzpuppen handelt. Als der Gaukler beginnt, die Puppen wieder in ihre Kisten einzupacken, erscheint Petruschkas Geist über dem Theater.

Die Musik zu «Petruschka», der 1911 in Paris mit Vaclav Nijinski in der Titelrolle eine vom Publikum begeistert aufgenommene Uraufführung in Paris erlebte, enthält schon alles, was wenig später auch im skandalumwitterten «Le sacre du printemps» zu Bestandteilen der Partitur wurde, in der «Puppenmusik» nur noch nicht so radikal und unverblümt ist: Strawinski entwickelt volkstümliche Themen und Tanzweisen mit dem Einbau von wenigen schrägen Zwischentönen weiter, färbt die Harmonien zwischendurch dissonant ein, überlässt die Rhythmik klanglichen Eruptionen ohne konkrete Themen, stellt in Collagen Melodien von Schlagern gegen- und übereinander und hält das Klanggeschehen durch kurzgliedrige Ostinatos ständig in Bewegung.Aus dem rhythmischen Pulsieren und harmonischen Vibrieren treten die Charaktere der drei Hauptfiguren mit knappen, signifikanten Themenformeln hervor: melancholisch und in etwas ungelenken Tonschritten sich fortbewegend Petruschka, elegant-kalt die Ballerina, lüstern-polternd der Mohr. Und aus allem klingt die Doppeldeutigkeit von Scheinwelt und Realität, vorgegaukeltem Drama und wirklicher Tragödie. Eine Musik, aus deren satirischen Zügen Wahrhaftigkeit hervortritt.1921 fertigte Strawinski aus der «Petruschka»-Musik eine dreisätzige Klavierfassung für den Pianisten Arthur Rubinstein an. 1946/47 arbeitete er die Ballettpartitur zu einer Suite um.

© Rainer Lepuschitz | Grafenegg Kulturbetriebsges.m.b.H.

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