Yutaka Sado erinnert sich an Leonard Bernstein

Nachdem er Leonard Bernstein in Tanglewood kennengelernt hatte, wurde der damals sehr junge Japaner Yutaka Sado sein Assistent in Wien – und zum Bernstein-Jubiläum anlässlich des 100. Geburtstags des Dirigenten, Komponisten und Pianisten gestaltete der heutige Tonkünstler-Chefdirigent mit seinem Orchester die Konzertsaison «Kosmos Bernstein». Im Interview spricht Yutaka Sado über die gemeinsamen Jahre in Wien, erzählt die lustigsten und denkwürdigsten Anekdoten und erklärt, wie Bernstein sein Leben geprägt und verändert hat.

Lieber Yutaka Sado, wie lief Ihre erste Begegnung mit Leonard Bernstein ab?

An unser allererstes Treffen erinnere ich mich sehr gut. Das war im August 1987, beim Tanglewood Festival in der Nähe von Boston, im Rahmen der Meisterklasse für Dirigieren. Wir waren 50 ganz junge Studenten. Seiji Ozawa war seinerzeit Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, dessen Sommerresidenz Tanglewood bis heute ist. Und er war damals Direktor des Tanglewood Festivals. Bernstein kam als Lehrer für zehn Tage dazu. Wir alle waren sehr nervös. Nachdem er uns etwa eine Dreiviertelstunde hatte warten lassen, fuhr er in einem Mercedes Cabrio vor. Er trug, ich weiß es noch genau, ein Jogging-Oberteil der Harvard-Universität, dazu Jeans und Sonnenbrille. Er kam herein, schwang sich auf den Flügel und begrüßte uns sehr cool mit den Worten «Hi Guys!».

Die Einladung nach Tanglewood zu Leonard Bernstein und Seiji Ozawa bezeichneten Sie einmal als Schlüsselmoment Ihres Lebens. Was wären Sie ohne dieses Ereignis geworden?

Dirigent, ganz sicher. Dirigent werden wollte ich unbedingt. Schon zuvor hatte ich Chöre und Blasorchester dirigiert und übrigens auch recht gut dabei verdient. Aber ich wäre wahrscheinlich nicht nach Europa gekommen und nicht nach Wien. Ich würde mich wohl gar nicht auf internationalem Parkett bewegen, sondern wäre in Kyoto geblieben, meiner Geburtsstadt.

Was unterschied Leonard Bernstein von Seiji Ozawa?

Der größte Unterschied war, dass Seiji Ozawa nicht sehr viel spricht. Er gibt zwar konkrete Anweisungen, zum Beispiel zu den Tempi oder zum Klang der Bläser, aber das eher über seine Bewegungen. So vermittelt er viele Details, spricht aber nicht mit dem Orchester. Er redete eher über das Leben, führt alltägliche Gespräche. Bernstein dagegen waren technische Details egal. Er formulierte immer, was Musik mitteilen soll. Natürlich zeigte er das auch, aber er gab immer auch Beispiele und trat vor den Musikern wie ein Schauspieler auf. Über das Leben, über die Hintergründe der Musik habe ich mit Bernstein viele private Gespräche geführt.

Haben Sie diese Unterschiede irritiert?

Nein, denn Seiji Ozawa hat einfach eine sehr japanische Art. Egal, ob Dirigenten, bildende Künstler oder Architekten: In Japan informiert sich der künstlerische Nachwuchs selbst, findet seine Herangehensweise selbst. Man beobachtet die Meister quasi von hinten und sucht eigene Zugänge. Seiji Ozawa versuche ich bis heute einzuholen, und er ist noch immer sehr weit vor mir!

Was war besonders in Ihrer Zusammenarbeit mit Leonard Bernstein? Gab es etwas Magisches in seiner Persönlichkeit, das Ihre künstlerische Laufbahn geprägt hat?

Sehr vieles! Er war ja Universalist, war Dirigent und Komponist, und er konnte wahnsinnig gut Klavier spielen. Aber einen Aspekt möchte ich herausgreifen: Von ihm habe ich gelernt, als Dirigent für die Musik da zu sein. Für die Musik stehe ich vor dem Orchester, für die Musik fordere ich die Musiker. Der Musik gehört mein Leben.

Als Bernsteins Assistent waren Sie einige Jahre lang an seiner Seite.

Ich war erst 26 oder 27 Jahre alt, als ich an Bernsteins Beispiel das Leben als Dirigent kennenlernte. Er nahm mich mit zu Fotoshootings, zu Schallplatten- und CD-Produktionen, zu Abhörterminen und Meetings, er unterrichtete mich. Ich begleitete ihn zu Konzerten, Interviews und auf offizielle wie private Partys. Auch wenn er schon müde war, hielt er vor der Kamera noch tolle Reden und war immer sehr witzig. An seinem 70. Geburtstag waren wir in Wien. Die ganze Stadt feierte ihn, und die Wiener Oper richtete für ihn ein Geburtstagsfest aus.

Er zeigte Ihnen seinen Alltag als Superstar?

Nur ein Beispiel: Als wir nach einer Übernachtung im Hotel Bristol in Wien zum Flughafen chauffiert wurden, fuhr hinter der Limousine ein Lastwagen – so viel Gepäck hatte er dabei. Und wenn wir nach Deutschland flogen, damals waren die Grenzen ja noch geschlossen, wurde er im Wagen bis ans Flugzeug gebracht. Das war die Zeit, in der ich noch mit der Bahn fuhr. Umso mehr hat mich hat das alles überrascht.

An welche Erlebnisse denken Sie heute, bald 30 Jahre nach seinem Tod, besonders gern?

Es gibt Tausende Erinnerungen an unsere Wiener Zeit – zum Teil sehr lustige. So war uns nach dem Ende einer Probe nach Bier und Cheeseburger, und es hatte nur ein einziges McDonalds-Restaurant geöffnet, obwohl erst Nachmittag war. Das Lokal befand sich in der Johann-Strauß-Gasse, glaube ich. Zu viert fuhren wir in Bernsteins Limousine zu McDonalds: ein Assistent, sein Manager und ich. Drinnen gab´s natürlich ein riesiges Hallo, weil alle Gäste Bernstein erkannten. Und ihm gefiel es da so gut, dass er das Tablett mit Cheeseburgern und Bier auf seinem Kopf balancierte und durch das Lokal tanzte. Mit uns essen wollte er unbedingt in der Kinderecke, wo alle Möbel die Form von Erdbeeren hatten. Und genau so haben wir es dann auch gemacht!

Noch eine Anekdote, bitte.

Unsere Begegnung mit Beethoven! Zu der Zeit, da ich eigentlich nach New York gehen wollte, sagte Bernstein: Okay, auf nach Wien. So war ich plötzlich sein Assistent. Ob ich da Freunde hätte, wollte er wissen – aber ich war ja ganz neu und kannte niemanden. Er würde mir nun meinen allerersten Freund vorstellen, versprach er und ging mit mir zur Beethoven-Statue, die damals noch im Foyer des Musikvereins stand. Das ist mein Freund, sagte er, und auch du darfst ihn Ludwig nennen. Und nun lern´ Beethoven kennen! Diese Begebenheit war sehr typisch für die Art und Weise, wie Bernstein Dinge weitergegeben hat.

Wie erfuhren Sie, dass er Ihr Talent erkannt hatte?

Nun, wir Japaner tun uns bekanntlich sehr schwer beim Erlernen von Fremdsprachen. Deshalb war ich voller Komplexe und extrem verschlossen, als ich zum ersten Unterricht nach Tanglewood kam. Alle anderen Teilnehmer der Meisterklasse waren Amerikaner, und ich konnte nicht mal ihre Sprache sprechen – in den USA! Wäre ich doch nur als Amerikaner oder Österreicher geboren, dachte ich, dann könnte ich auch die Musik besser verstehen. Wir probten also die vierte Symphonie von Tschaikowski, den zweiten Satz, das Andantino. Danach wollte Bernstein, dass sich unsere Hände annähern – nur seine und meine, und zwar ganz, ganz langsam. Ein Kinderspiel, meinten alle, als wir das demonstrierten. Aber Bernstein erläuterte dann, was passierte: Zwischen den Händen entstehe eine Energie, ein spürbare Kraft. Und diese Energie zu erzeugen, sei ein ganz typisches und speziell japanisches Talent. Dann sprach er 20 Minuten lang über das Nō-Theater, die Kostüme darin, die Instrumente. Und zu mir sagte er: Mit diesem Talent, Yutaka, wirst du das Adagio aus Mahlers fünfter Symphonie dirigieren. Sonst sagte Bernstein in dieser ersten Stunde fast nichts. Einzig und allein in der Geste mit dem langsamen Handschlag drückte er das Besondere der japanischen Mentalität aus.

War Bernstein eine Art väterlicher Freund für Sie?

Unsere Beziehung hatte viele Seiten. Bernstein war wie ein Vater, der mich beschützte – wie Seiji Ozawa übrigens auch. Bevor ich zu ihnen kam, hatte ich keinen Lehrer, sondern brachte mir das Dirigieren autodidaktisch bei. Ozawa stellte mich dann Bernstein vor, und er, Bernstein, war auch der erste, der mir sagte, dass ich Talent hätte. Beiden bin ich bis heute sehr dankbar. Und ja, wir hatten immer auch viel Spaß! So besaß ich damals, als noch fast niemand so etwas kannte, ein elektronisches Wörterbuch. Bernstein fand es immer sehr lustig, komische Wörter einzugeben und zu schauen, was herauskommt. Was ich sagen will: Er war ein großartiger Lehrer und zugleich ein freundschaftlicher, äußerst unterhaltsamer Zeitgenosse.

Er hat Ihren Wunsch bestärkt, selbst Dirigent zu werden?

Wie gesagt: Das Wichtigste, was ich von ihm lernte, war, für die Musik zu leben. Aber ob ich es als Dirigent schaffen würde? Ich hatte ja keine Ahnung. Bernstein meinte dazu: Life can be beautiful – wenn man es wirklich will, wird es schön. Er war es, der mir das Selbstbewusstsein gab, es zu versuchen. Und dass es geklappt hat, verdanke ich ihm!

Welche der vielen Facetten seiner Persönlichkeit hat Sie besonders beeindruckt?

Nun, Bernstein war ein Superstar, er hat mit den Wiener Philharmonikern gearbeitet, Aufnahmen produziert, weltweit Orchester geleitet. Als ihn nach seinem besten Konzert fragte und er antwortete, das sei eine Aufführung für junge Leute gewesen, eines seiner berühmten Young People´s Concerts, dachte ich: Jetzt macht er wieder Witze. Erst heute, etwa drei Jahrzehnte später, verstehe ich, dass es ihm ernst war. Das Unterrichten, das Weitergeben der Musik an die Jugend waren für ihn das Größte. Nun kann ich nicht sein wie er. Aber den nächsten Generationen etwas zu vermitteln, ist eine ganz wichtige Aufgabe, die wir als Menschen haben – innerhalb der Familie, aber auch darüber hinaus.

In welcher Situation haben Sie die Nachricht vom Tod Leonard Bernsteins erhalten?

Ich war in Wien, ausgerechnet. Erst drei Tage zuvor hatte Bernstein bekanntgegeben, dass er nicht mehr dirigieren, nur noch komponieren würde. Am Abend begann das Telefon zu läuten. Journalisten aus der ganzen Welt riefen an, und ich gab die ganze Nacht lang Interviews. 1990 hatte ich den Dirigierwettbewerb in Besançon gewonnen, für mich der Beginn meiner Karriere. Ich bekam viele Aufträge, arbeitete sehr viel und hatte wenig Zeit für Besuche. Da ich von Bernsteins Agenten wusste, dass es ihm gesundheitlich nicht gut ging, wollte ich ihn in New York treffen. Kurz darauf gab ich Interviews, weil er gestorben war.

Was änderte sich für Sie?

Plötzlich war er einfach nicht mehr da. Ich war sehr, sehr traurig – ebenso traurig wie der Kellner im Hotel Bristol, der ihm immer das Essen aufs Zimmer brachte, und der Chauffeur seiner Limousine. Das war mir bewusst. Alle Musiker der Welt haben um ihn getrauert! Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass auch jemand mit so vielen Talenten und Begabungen sterblich ist. Im Tod sind wir tatsächlich alle gleich.

Im weltweiten Bernstein-Jubiläumsjahr anlässlich seines 100. Geburtstags führen Sie nun mit den Tonkünstlern die Musik Ihres Mentors und Freundes auf. Was bedeutet Ihnen das?

Als ich bei den Tonkünstlern unterschrieb, lag Bernsteins Geburtstag in weiter Ferne. Nun also bin ich wieder angekommen in Wien, nachdem ich durch ihn eine Beziehung zu Wien aufbauen konnte, die über ein touristisches Interesse weit hinausgeht – zu seinem 100. Geburtstag! Das sind schon seltsame Zufälle. Ich bin nicht sehr spirituell veranlagt und glaube nicht an Übernatürliches. Aber es gibt offenbar Dinge, die wir mit unseren Sinnen allein nicht erfassen können. Die Begegnung mit Bernstein, mit Wien, mit den Tonkünstlern, nun Bernsteins Jubiläum: Das sind Fügungen des Schicksals.

Leben damit die gemeinsamen Wiener Jahre wieder auf?

Vielleicht am stärksten die Reisen und Partys zu seinem 70. Geburtstag. Ganz egal, wer bei diesen Gelegenheiten welches Instrument dabei hatte: Alle spielten Musik aus der «West Side Story». Sicher war Bernstein stolz darauf. Was er aber gar nicht mochte: wenn sein Name lediglich in Verbindung mit diesem Musical genannt wurde. Natürlich ist es sein bestes Werk, aber er hat auch viele andere großartige Stücke komponiert: Symphonien, Lieder, Ballette, Filmmusiken. Diese ebenfalls vor den Vorhang zu holen, empfinde ich als meine Pflicht.

Auf der von den Tonkünstlern eingespielten Tribute-CD mit Bernsteins Kompositionen kommt die «West Side Story» aber auch vor.

Da muss ich etwas weiter ausholen: Schon als Volksschüler lernte ich über die «West Side Story» Leonard Bernstein als Komponisten und Dirigenten kennen. Auch Menschen in meinem Umfeld, die sich nicht für Klassik interessierten, waren begeistert von dieser Stück Musik. Damals nahm ich jeden Sonntag Klavierstunden, was mir vor den Mitschülern immer peinlich war. Aber sobald ich ihnen etwas aus der «West Side Story» vorspielte, fanden es alle ganz toll. Das waren meine ersten Begegnungen mit Bernstein. Mit unserer Tribute-CD hat sich ein großer Traum für mich erfüllt. Denn ich habe von ihm nicht nur gelernt, wie man ein Orchester dirigiertechnisch zusammenhält. Er hat mir auch gezeigt, wie man den Swing erzeugt, den Groove. In der «West Side Story» sind immer Ernst und Spaß dabei, beides zugleich. Es ist ein sehr populäres Stück und zugleich kompositorisch sehr raffiniert gemacht. Eine solche Annäherung an die Musik, die zugleich eine Annäherung an das Leben ist, hat mir Bernstein auch bei Mahler und Beethoven gezeigt.

Was ist Ihnen am wichtigsten im Jubiläumsjahr?

Bernstein als Ganzes zu sehen: als Komponisten und Interpreten, als Künstlerpersönlichkeit mit all ihren Facetten. Wie viel Musik hat er in der Welt erst bekannt gemacht! Gustav Mahler zum Beispiel, dessen Biografie ja eng mit Wien verbunden ist, verhalf Bernstein weltweit, auch in Amerika, zu großer Popularität. Oder denken Sie an die Turangalîla-Symphonie von Olivier Messiaen, ein großartiges Stück, von Bernstein in Boston uraufgeführt. Daneben ist es mein besonderes Anliegen, Bernstein als Komponisten zu präsentieren, denn sein Werk hat absolut historische Dimensionen. Als Dirigent sieht man ihn auf Videos, viele Menschen erinnern sich an Konzerte mit ihm, aber das werden immer weniger. Bleiben wird Bernstein, der Komponist.

Ein Höhepunkt der Tonkünstler-Saison «Kosmos Bernstein» war die Aufführung von Bernsteins dritter und letzter Symphonie, «Kaddish», im April 2018. Warum dieses Stück?

Die Symphonie zeigt Bernsteins Religiosität, er offenbart in ihr seine Beziehung zu Gott. Und die wiederum wirft viele Fragen auf, auf die er Antworten zu finden versucht. In einer sehr aufrichtigen Weise geht es hier um den Sinn des menschlichen Lebens. Bernstein stellt ganz klare Fragen und zeigt enorm viel von seinem Inneren.

Messiaens Turangalîla-Symphonie stand unter Ihrer Leitung ebenfalls auf dem Saisonprogramm. Bernstein hatte die Uraufführung am 2. Dezember 1949 anstelle des erkrankten Serge Koussevitzky dirigiert. Welche Beziehung haben Sie zu diesem Werk?

Bernstein war ja noch sehr jung bei der Uraufführung, gerade 31 Jahre alt. Die Erstaufführung in Japan übernahm dann übrigens Seiji Ozawa. Damit schließt sich für mich der Kreis nach Tanglewood, das für mich eine Art Tor zur Welt war. Die Sommerresidenz des Bostoner Orchesters war nämlich von Koussevitzky initiiert worden, der dort ursprünglich sein Sommerhaus hatte, in dem er auch Bernstein und Ozawa unterrichtete. Ich kann mich erinnern, dass hinter dem Klavier seinerzeit eine große Büste von Koussevitzky stand. Und so erhielt ich meinen ersten Dirigierunterricht an jenem Ort, wo Bernstein und Ozawa schon von Koussevitzky gelernt hatten.

Auch mit vielen anderen Werken Bernsteins verbinden Sie sehr persönliche Erinnerungen.

Tatsächlich liegt in jedem einzelnen Werk ein Stück meiner persönlichen Geschichte. Allein an «Fancy Free» hängen unglaublich viele Erinnerungen. Damit hatte ich mein Europa-Debüt beim Carinthischen Sommer in Villach, und zwar mit der Slowakischen Philharmonie. Bernstein schlug vor, dass ich «Fancy Free» dirigieren solle. Die fortwährenden Taktwechsel hören sich sehr einfach an, sind aber wirklich schwer, und ich habe gelernt wie verrückt. Das war im Juli 1989, im Todesjahr von Karajans. Später, zu seinem 70. Geburtstag, führte Bernstein «Fancy Free» mit dem London Symphony Orchestra auf. Die Partitur war quasi unbenutzt, es war schließlich sein eigenes Stück. Mir gab er den Auftrag, die Partitur so zu präparieren, dass sie nicht zuklappt. Dann saß ich da und habe eine halbe Stunde lang Seiten gefaltet.

Auch auf der zweiten großen Tournee mit dem Tonkünstler-Orchester durch ihre Heimat im Mai 2018 haben Sie Leonard Bernsteins Musik aufgeführt. Wie fühlte sich das an?

In Zeiten, da ich noch selbst Tickets kaufte, um ausländische Orchester zu hören, waren die Konzerte mit Seiji Ozawa und seinem Boston Philharmonic Orchestra Höhepunkte für mich, neben den Auftritten von Herbert von Karajan mit den Berliner und den Wiener Philharmonikern natürlich. Jetzt kann ich selbst mein ausländisches Orchester nach Japan bringen, um Musik von Brahms und Richard Strauss zu spielen – das konnte ich mir damals, als knapp über 20-Jähriger, überhaupt nicht vorstellen. Das ist, als würde ich mitten in einem Traum leben.

Welche Beziehung hat das japanische Publikum zur Musik Bernsteins?

In Japan ist Leonard Bernstein vor allem als Komponist der «West Side Story» bekannt. Viele Menschen sind ihretwegen Bernstein-Fans. Ihm würde das natürlich nicht besonders gefallen. Andererseits wissen viele Japaner, dass ich bei Bernstein gelernt habe, und wollen nun erleben, wie ich seine Musik verstehe und dirigiere.

Auch mit japanischen Musikerinnen und Musikern?

Um dem japanischen Publikum zu zeigen, wie viel mehr gute Musik es von Bernstein gibt und wie faszinierend diese Stücke sind, haben wir im Performing Arts Center in Hyogo schon vor Längerem seine zweite und die dritte Symphonie aufgeführt, ebenso die Operette «Candide». Das waren schon damals außerordentlich erfolgreiche Projekte. «Make our Garden grow», das Finale des zweiten Akts aus «Candide», habe ich oft nach dem großen Erdbeben von Kōbe 1995 dirigiert, um Unterstützung für den Wiederaufbau in der völlig zerstörten Region zu finden. Dieses Finale handelt davon, wie jeder Einzelne mit seinen Mitteln zum gemeinsamen Leben beitragen kann. Und darum geht es ja schließlich, immer: dass wir alle gemeinsam unsere Stadt, unseren Lebensraum gestalten.

Interview: Ute van der Sanden
Übersetzung aus dem Japanischen: Karin Höfler

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